Die Bibliothek von Herculaneum. Ein Überblick über die ersten 270 Jahre ihrer Erforschung und über die neuesten Entdeckungen mithilfe von Synchrotronstrahlung und maschinellem Lernen.

Prof. Dr. Jürgen Hammerstaedt, Universität Köln

Die unweit vom heutigen Neapel gelegene antike Stadt Herculaneum wurde im Jahr 79 n. Chr. von einem gewaltigen Vesuvausbruch  verschüttet und von Lavaschichten späterer Eruptionen hermetisch versiegelt. Durch diesen Umstand haben sich, anders als in der Nachbarstadt Pompei, auch Objekte aus organischen Materialien erhalten. Nachdem zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei unterirdischen Arbeiten erste vom Vesuv begrabene antike Funde zum Vorschein gekommen waren, konnten bei Schachtgrabungen zwischen 1752 und 1754 etwa 1000 verkohlte Buchrollen geborgen werden.

Zur Öffnung und Lesung der verkohlten Papyrusrollen sind im Laufe ihrer nunmehr 270jährigen Erforschung verschiedene mechanische Verfahren zum Einsatz gekommen, die allesamt zu mehr oder weniger starker Fragmentierung, und in manchen Fällen sogar zum Totalverlust führten. Auch mit den erfolgreicheren Methoden konnte keine der Rollen, in denen hauptsächlich philosophische Texte meist aus der epikureischen Philosophie enthalten sind, vollständig wiedergewonnen werden. Ungefähr 500 Buchrollen verblieben bis heute ganz oder teilweise ungeöffnet. In jüngster Zeit, seit Herbst 2023, weist nun der Einsatz modernster physikalischer  Methoden im Zusammenspiel mit Verfahren des maschinellen Lernens neue Wege, mit nichtinvasiver Vorgehensweise ohne materielle Schäden an die in den ungeöffneten Rollen bislang noch unerreichbaren Texte zu gelangen.

In diesem Vortrag werden die wichtigsten Entwicklungen der Erforschung der Papyri von Herculaneum skizziert, die mit nunmehr 270 Jahren der bei weitem älteste Teilbereich der Papyrologie ist, und anschließend die neuesten Errungenschaften und künftigen Aussichten für die weitere Erschließung dieses einzigartigen Weltkulturerbes besprochen.

Prof. Dr. Jürgen Hammerstaedt studierte Klassische  Philologie an der Universität zu Köln und zeitweilig in Düsseldorf, Pisa und in Oxford. Nach seiner Promotion in Köln war er von 1988 bis 1991 Stipendiat am „Centro Internazionale per lo Studio dei Papiri Ercolanesi“ in Neapel. Von 1991 bis 1996 arbeitete er am Franz Joseph Dölger-Institut zur Erforschung der Spätantike der Universität Bonn als wissenschaf tlicher Mitarbeiter an der Herausgabe des von der Düsseldorfer Akademie finanzierten „Reallexikons für Antike und Christentum“. Anschließend forschte er an der Arbeitsstelle für Papyrologie, Epigraphik und Numismatik der Universität zu Köln in dem ebenfalls  von der Düsseldorfer Akademie geförderten Langzeitvorhaben „Edition und Kommentierung von Papyrusurkunden“. Nach seiner 1999 erfolgten Habilitation und der Vertretung einer Latinistikprofessur an der Universität Potsdam wurde er auf den Lehrstuhl für Gräzistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena berufen und lehrte dort von 2000 bis 2004. Seitdem ist er an der Universität zu Köln Lehrstuhlinhaber für Klassische Philologie und Papyrologie. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören neben christlichen Autoren der ersten Jahrhunderte und der monumentalen epikureischen Inschrif t in Oinoanda (Türkei), von der er seit 2007 zusammen mit einer internationalen Equipe zahlreiche weitere Teile entdeckt und ediert hat, die philosophischen Papyrus- texte aus Herculaneum. Seit 2010 fungiert er als „socio“ und seit 2017 als Vizepräsident des „Centro Internazionale per lo Studio dei Papiri Ercolanesi“ in Neapel.

Prof. Dr. Jürgen Hammerstaedt  ist seit 2010 ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und seit 2019 Sekretar der Klasse für Geisteswissenschaften.