Neue Mitglieder 2022: Stefan Raunser (Klasse für Naturwissenschaften und Medizin)

Nach seiner Promotion war Professor Dr. Stefan Raunser drauf und dran, die Wissenschaft aufzugeben. Rückblickend hat ihm die Sinnkrise genützt. Mit 46 Jahren gehört der Biochemiker zu den Frühberufenen der Akademie, dazu als erster ehemaliger Stipendiat des Jungen Kollegs.

Porträt Professor Dr. Stefan Raunser
Porträt Professor Dr. Stefan Raunser. Der Biochemiker schaut durch ein Mikroskop.

Dabei sein ist nichts: Irgendwo auf der Welt forscht immer jemand an ähnlichen Fragen. Für Stefan Raunser ist der Anspruch sonnenklar: im internationalen Wettbewerb die Nase vorn zu haben. Fotos: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste / Engel-Albustin 2022

Wenn die Zeit drängt, das nächste Paper fertig werden muss, geht Stefan Raunser in seinen Tunnel: Kopfhörer auf, Metallica an, eine Cola in Reichweite. Es liegt in den Genen der Naturwissenschaft, dass sie niemals schläft. Irgendwo auf der Welt forscht immer jemand an ähnlichen Fragen. Für den Direktor der Abteilung Strukturbiochemie am Dortmunder Max-Planck-Institut (MPI) ist der Anspruch sonnenklar: im internationalen Wettbewerb die Nase vorn zu haben. „Der hohe Zeitdruck in der Wissenschaft wird viel kritisiert“, bemerkt er. „Unsere Konkurrenten sind aber nun einmal die Besten der Welt, zum Beispiel Harvard. Ich nehme das sportlich.“ Erster sein. Nothing else matters.

Als Postdoc forschte Raunser in den Nullerjahren selbst an der Harvard Medical School. Von dort brachte er Kenntnisse in der Elektronenmikroskopie mit, die in Deutschland rar waren. Das Dortmunder MPI nahm den jungen Kollegen mit Kusshand und stellte ihn als Leiter einer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe ein. Mit 37 Jahren zog es den Biochemiker an die Freie Universität Berlin, die ihm ein verlockendes Angebot machte: eine Einstein-Professur für Membranbiochemie. Und doch gelang es dem MPI, ihn schnell zurückzugewinnen. „Der Erfolg unserer Arbeit ist abhängig von teuren Geräten. Das MPI kommt einem Wissenschaftler diesbezüglich sehr entgegen“, erklärt Raunser.

Zusammen mit seinem Team erforscht er grundlegende biochemische Vorgänge. Im Rampenlicht stehen Moleküle, die wenige Nanometer groß sind. Um sie sichtbar zu machen, braucht man über vier Meter hohe Geräte. Mit dem Elektronenmikroskop und selbst entwickelter Software zeigte das Team beispielsweise, wie bestimmte Bakterien Tc-Toxine in die Zellen ihrer Wirte schleusen und damit abtöten. Diese Giftstoffe finden sich zum Beispiel im Pesterreger.

„Damals habe ich überlegt, mit der Forschung aufzuhören. Aber letztlich habe ich daraus gelernt. Man muss bereit sein, in einen Wettbewerb zu treten.“

Mit einer neuartigen Methode wurde dieser „Zellmord“ Bild für Bild festgehalten, wie in einem Daumenkino, und eine Animationssoftware verwandelte das Material in einen anschaulichen Trickfilm. Neben bakteriellen Toxinen erforscht das Team, was Muskeln in Bewegung setzt: Wie lösen bestimmte Moleküle eine Kontraktion aus? Beide Forschungsfelder könnten eines Tages neue Therapien ermöglichen, etwa von Herzkrankheiten oder Krebs.

Mit seinem Wissensdurst war Raunser der Erste in seiner Familie, der Abitur machte und studierte. Die Naturwissenschaften hatten es ihm angetan, doch Forscher zu werden war nicht sein Plan A. „Ich habe erst Biologie und Chemie auf Lehramt studiert“, erzählt er. „Das hat mich aber nicht so ausgefüllt. Ich habe gemerkt, dass das Wissen noch viel weiter geht.“ Also nahm er parallel ein Diplomstudium in Biologie auf und legte das Lehramt nach dem ersten Staatsexamen ad acta.

Seine Promotion am MPI für Biophysik in Frankfurt 2004 wäre beinahe nicht der Anfang, sondern das Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn gewesen. „Mit meiner Doktorarbeit war ich an einem spannenden Thema. Aber ein anderes Team war schneller“, so Raunser. „Damals habe ich überlegt, mit der Forschung aufzuhören. Aber letztlich habe ich daraus gelernt. Man muss bereit sein, in einen Wettbewerb zu treten.“

„Was ich am meisten mag, ist das Teamwork. In unserer Abteilung arbeiten 20 Wissenschaftler, da haben wir alle paar Wochen tolle Ergebnisse.“

Dass er heute kaum noch im Labor arbeitet, stört ihn nicht. Er fühlt sich wohl in seiner Führungsrolle, auch wenn er dafür schon einmal 14 Stunden am Stück herunterreißt. „Was ich am meisten mag, ist das Teamwork. Als Doktorand und Postdoc ist man allein und muss lange, manchmal zwei, drei Jahre auf große Ergebnisse warten“, sagt er. „In unserer Abteilung arbeiten 20 Wissenschaftler, da haben wir alle paar Wochen tolle Ergebnisse.“

Dafür verlegt sich Raunser gerne mehr aufs Strategische, plant Experimente, wirbt Gelder ein, schafft interessante Stellen. Spitzenforschung braucht Vielfalt, davon ist er überzeugt: „Sie fördert das Denken über den Tellerrand hinaus. Am MPI stammen ungefähr 60 Prozent der Wissenschaftler aus dem Ausland. Wenn ich neue Stellen besetze, ist es mir außerdem wichtig, möglichst gleich viele Frauen und Männer ins Team zu holen.“

Mit seiner Leidenschaft erinnert Raunser an einen Topathleten, der sein Leben auf den nächsten Titel ausrichtet. Noch als Postdoc spielte er Violine im Laienorchester, heute findet er dafür kaum noch Muße. Im Urlaub steht er lieber zwei Stunden vor seiner Frau und den Kindern auf, um E-Mails zu beantworten, statt nach den Ferien den ganzen Berg abzuarbeiten. Trotz all dem Stress wirkt Raunser entspannt. Seine Energie schöpft er aus der Begeisterung: „Man würde das nicht durchhalten, wenn man es nicht mag.“