Erste Ergebnisse aus der AG Migration: „Gesellschaft mit Migrationshintergrund“

Einführung in das Thema und Vorstellung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe Migration durch Prof. Thomas Faist PhD, Mitglied der Klasse für Geisteswissenschaften (Universität Bielefeld)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen:

Gegenwärtig stehen Migration und Flucht wieder einmal im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, eng verknüpft mit dem Krieg in der Ukraine. Aktuelle Diskussionen um Migration betreffen in Zielländern wie Deutschland auch den allgegenwärtigen Fachkräftemangel in den Pflege- und Technikberufen und im Handwerk. Daneben finden wir Themen wie Diskriminierung, Rassismus und kulturelle Vielfalt. Und in den Herkunftsländern werden die dortigen Lebensverhältnisse, die Folgen der Abwanderung der bereits erwähnten Fachkräfte und die Konsequenzen von Klima- und Umweltzerstörung für Abwanderung kontrovers diskutiert. Kurzum, Migration ist zu einem Querschnittsthema geworden, das viele gesellschaftliche Bereiche erfasst. Die „Gesellschaft mit Migrationshintergrund“, in der wir leben, weist darauf hin, dass Migration in fast allen gesellschaftlichen Bereichen eine wesentliche Rolle spielt. Migration ist ein nicht wegzudenkender Bestandteil menschlichen Lebens.

Das Ziel der Arbeitsgruppe Migration an unserer Akademie ist ein besseres Verständnis von Migration in interdisziplinärer Absicht. Kurzum, in Anlehnung an den Titel unserer Fachtagung könnte man sagen: wir beschäftigen uns in der AG Migration seit Ende 2020 mit „Migrationshintergründen“.

Bei meinen Ausführungen zu den vorläufigen Ergebnissen der AG Migration werde ich Ihnen heute ein gehöriges Maß an Reduktion von Komplexität zumuten. Dabei werde ich beispielhaft Aspekte aus den einzelnen Beiträgen unserer Publikation und auch aus nicht veröffentlichten Konzeptpapieren der AG Migration herausgreifen.

Mit Hilfe von fünf Thesen will ich nun ausgewählte Ergebnisse zuspitzen. Diese Thesen geben keinen Konsens in der AG Migration wieder, sind also nicht das Endprodukt einer Debatte. Vielmehr bilden die Thesen einen ersten Versuch die Beiträge miteinander zu koppeln.

These 1: Wir alle haben einen Migrationshintergrund und leben schon seit dem Auftreten des homo sapiens in Afrika vor einigen Jahrzehntausenden in einem Zeitalter der Migration.

Nach heutigem Wissensstand verbreitete sich die Menschheit von Afrika aus seit etwa 50.000 Jahren allmählich über den Erdball. Dabei traf der moderne Mensch auch auf andere Menschenformen wie den homo neanderthalensis und den homo denisova – und vermischte sich. Gehen wir also über viele Generationen zurück, dann offenbart sich, worauf Rudolf Stichweh in seinem Beitrag hinweist: Wir alle verfügen über einen Migrationshintergrund. Weiterhin macht uns die Paläoanthropologie darauf aufmerksam, dass es wohl die Neugier und der Erfindungsreichtum des modernen Menschen, zusammen mit der Notwendigkeit der Sicherung des Überlebens waren, die eine ständige räumliche Mobilität vor allem in kleinen Gruppen mit sich brachten. Kurzum, uns allen gemein ist die Tatsache, dass wir schon immer in sozialen Verbänden lebten, für die Migration ein Bestandteil ihres Lebens war – ob nun in mobilen Jäger- und Sammlergruppen, seit dem Neolithikum dann in Agrargesellschaften und schließlich auch in der zeitgenössischen Gesellschaft.

Heute leben wir in einer Weltgesellschaft, in der die kommunikative Vernetzung noch stärker als in der Vergangenheit ist. Die Anwesenheit vor Ort ist damit immer weniger entscheidend für die Möglichkeit zur Kommunikation. Kurz gesagt ist dabei soziale Nähe selbst bei größerer räumlicher Distanz möglich geworden. Dazu tragen etwa Telefon, Email oder soziale Medien bei. Oft sind also die Bezüge vieler Menschen, ob nun Migrierender oder relativ Sesshafter, Staatsgrenzen übergreifend und multilokal. Soziale Medien machen transnationale Praktiken wie Rücküberweisungen oder politische Partizipation über Ländergrenzen hinweg heute noch etwas einfacher als zur Zeit der Emigrantenbriefe im 18. und 19. Jahrhundert.

Gleichzeitig, und das erscheint als Paradox, werden Orte immer wichtiger. Um nur einen Aspekt herauszugreifen: Der Ort, an dem ein Mensch geboren wurde bzw. an dem er oder sie lebt, hat entscheidenden Einfluss auf seine oder ihre Lebensverhältnisse. Es ist offensichtlich, dass es einen Unterschied macht, ob ich in Mali oder Deutschland geboren bin bzw. wohne. Manche Beobachter sehen im Wohnort heute sogar den wichtigsten Faktor der Bestimmung von Einkommen, Gesundheit, Bildung, Arbeitsgelegenheiten und anderen Determinanten, die unsere Lebensverhältnisse prägen. Eine solche Perspektive interpretiert Migration also im Kontext globaler sozialer Ungleichheiten, stellt unterschiedliche Lebensverhältnisse in den Mittelpunkt und unterscheidet nicht sofort zwischen Migranten und Flüchtlingen. Letzteres ist erst einmal eine rein rechtliche Kategorie. Was also könnte aus dieser Perspektive selbstverständlicher sein, als die Distanz zwischen Orten mit schlechteren Lebensverhältnissen und teilweise großen Gefahren für Leib und Leben einerseits und attraktiven und sicheren Zielregionen andererseits durch Migration zu überwinden?

Diese Vermutung von Exit als Antwort auf globale soziale Ungleichheiten wird auch durch Daten gestützt: Weltweit ist 1 von 8 Personen ein Migrant, also etwa 800 Millionen Menschen, entweder staatenintern oder Staatsgrenzen überschreitend.

Aber ein differenzierterer Blick ist notwendig: Denn wir leben heute wohl nicht in einem nie dagewesenen Zeitalter der Migration: Im ausgehenden 19. Jahrhundert lag – grob geschätzt – die globale Migrationsquote wohl noch höher als heute. Weder damals noch heute können wir von einem Massenexodus aus den jeweiligen Herkunftsländern sprechen. Der Unterschied zwischen damals und heute liegt also nicht so sehr im Anteil der Migrierten an der Weltbevölkerung, sondern eher darin, dass immer mehr Staaten und Orte ins Migrationsgeschehen einbezogen sind und zugleich als Herkunfts-, Transit- und Zielregionen fungieren. Bei der Kategorie Geflüchtete aber beobachten wir ein schnelleres Wachstum in den letzten 10 Jahren. Deren Zahl hat sich seit 2010 verdoppelt, nicht zuletzt aufgrund der Kriege in Syrien und der Ukraine. Festzuhalten ist, dass wir heute immer mehr in einer Weltgesellschaft mit Migrationshintergrund leben, in der Kommunikation auch für Migranten über Orte hinweg immer schneller vor sich geht und Orte zugleich immer entscheidender für Lebensverhältnisse werden. Bei Migration fließen beide Entwicklungen zusammen.

Einer der von der AG Migration noch nicht behandelten Aspekte ist Süd-Nord Migration als späte Folge von Kolonialisierung und Imperialismus. Diese Einsicht beschränkt sich nicht nur darauf, dass viele Migranten aus ehemaligen Kolonien in die südlichen und nördlichen Metropolen wandern. Als ein offensichtliches Beispiel mögen Migranten aus west- und nordafrikanischen Ländern in Frankreich dienen. Vielmehr sind auch viele innerstaatliche Konflikte insbesondere in den Herkunftsländern durch das Erbe des Kolonialismus und imperiale Politik mit Weltmachtbestrebungen bedingt. So lässt sich der Krieg in Syrien sicherlich nicht ohne die Folgen der willkürlichen Grenzziehungen europäischer Mächte nach dem 1. Weltkrieg im Mittleren Osten verstehen. Und auch der gegenwärtige Krieg gegen die Ukraine kann nicht unabhängig von den imperialen Bestrebungen des russischen Regimes gesehen werden.

Ale Bachlechner von der Jungen Akademie betont in ihrem Konzeptpapier, dass auch das Phänomen des Rassismus in den Zielländern mit der Kolonialgeschichte eng verwoben ist. Schließlich diente die Einteilung der indigenen Bevölkerung entlang rassifizierter Kategorien als Instrument der häufig gewaltsamen Mobilisierung von Arbeitskräften und ihrer Exklusion von voller Mitgliedschaft – nicht nur in bekannteren Fällen wie Südafrika bis zum Ende des Apartheidregimes.

These 2: In einer Gesellschaft mit Migrationshintergrund signalisieren Fremd- und Eigenbezeichnungen, welche Unterscheidungen zwischen „innen“ und „außen“ vorherrschen.

Staaten kategorisieren Prozesse und Menschen in Innen und Außen, rechtlich in Inländer und Ausländer. Solche Kategorisierungen sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie Menschen „migrantisieren“. Dabei werden Migration und damit in der Regel verknüpft, Nationalität, Ethnizität und Religion, als zentrale Unterscheidungsmerkmale hervorgehoben.

Wie wirkmächtig neben rechtlichen auch soziale Fremd- und Eigenkategorisierungen sind, lässt sich aus zwei AG-Beiträgen lernen. Gerald Echterhoff beobachtet in seinem Beitrag zum Umgang mit Traumata von Geflüchteten aus psychologischer Perspektive, dass schon länger Einheimische die Geflüchteten als Gefahr ansehen oder umgekehrt auch mit Empathie begegnen können. Diese Einstellungen sind einem Wandel unterworfen. Die anfänglich große Empathie gegenüber Geflüchteten aus dem Mittleren Osten nahm 2016 wieder ab, während bisher die Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen des Kriegs gegen die Ukraine ungebrochen ist – zumindest was ukrainische Bürger und Bürgerinnen aus der Ukraine betrifft. Wir beobachten also Unterschiede in der Bereitschaft der Aufnahme von Gruppen Geflüchteter. Aber wovon hängen diese ab? Laut Echterhoff spielt für bereits Ansässige bei der Wahrnehmung von Geflüchteten unter anderem eine Rolle, ob sie als „Kriegsflüchtlinge“ oder einfach nur als Geflüchtete wahrgenommen werden. Krieg scheint so eher mit „guten“ Geflüchteten verknüpft zu werden, aber eben auch nicht ausnahmslos.

Anne Friedrichs zeichnet in ihrem Beitrag aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive nach, wie sich das Vokabular in Bezug auf Schutzsuchende und andere Migranten entwickelt hat. Fremd- und Eigenkategorisierungen – oder wie Friedrichs es nennt: „Zuordnungsverfahren“ – sind über die historische Analyse hinaus relevant etwa für die Bestimmung von Kategorien erzwungener Migration wie „Klimaflüchtling“ in einem Erdzeitalter, das je nach politischer Ausrichtung als Anthropozän oder Kapitalozän bezeichnet wird. Einmal besteht ein Problem der Fremdbezeichnung als „Klimaflüchtling“ darin, dass diese Menschen in öffentlichen Debatten häufig als Opfer des Klimawandels ohne Handlungsoptionen gesehen werden. Zum anderen ist der Begriff „Klimaflüchtling“ rechtlich unbestimmt. Bei Geflüchteten nach der Genfer Flüchtlingskonvention hat die Bezeichnung und Anerkennung als Flüchtling ja zumindest den Vorteil, dass sie den Zugang zu einem Aufenthaltsrecht mit sich bringt. Das ist bei den als „Klimaflüchtling“ bezeichneten in der Regel nicht der Fall.

These 3: Sesshaftigkeit und Migration bedingen einander.

Wie verhalten sich Migration einerseits und Sesshaftigkeit andererseits zueinander? Einen ersten Einblick in diese Fragen verschafft Hans Peter Thurn in seinem Beitrag zu den Künsten auf Wanderschaft. Er spricht von einer „Nomadisierung“ des Kunstbetriebs und auch von der Multilokalität vieler Künstler in den vergangenen Jahrhunderten. Als Beispiel erwähnt er Marcel Duchamp, der zwischen Paris und New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts pendelte und so seine Ko-Präsenz an beiden Orten aufrechterhielt.

Laut Thurn bedingen dabei Migration und Sesshaftigkeit einander: Einerseits erfordern die Künste Sesshaftigkeit, weil Muße für künstlerisches Schaffen eine wichtige Voraussetzung ist. Andererseits bedingen Künste aber auch Migration zum Austausch von Ideen. Es existiert also oft eine produktive Spannung zwischen Mobilität und Immobilität. Schon dieses Beispiel weist darauf hin, dass Sesshaftigkeit versus Migration eine falsche Alternative suggeriert. Eher stellt sich die Frage: Wie bedingen die beiden Phänomene einander?

Um einer Antwort näherzukommen, könnte man aus sozialanthropologischer bzw. ethnologischer Sicht von „place making“ sprechen. Dieser Begriff zielt auf das Bestreben von Menschen sich einen „Platz“ in sozialen Gefügen zu schaffen, durch Beziehungen zu anderen, aber auch zu Dingen und Lokalitäten. Dazu ist es notwendig, zugleich mobil und sesshaft zu sein. Platz kann man nur hervorbringen, indem man ihn ständig durch Mobilität anpasst, verändert, und gleichzeitig durch Sesshaftigkeit ausfüllt. Beispielsweise können sich Menschen durch Migration immer wieder an die sich verändernden ökologischen Gegebenheiten anpassen. Daran sollten wir uns gerade in Zeiten des an Fahrt aufnehmenden Klimawandels erinnern.

These 4: Migration und ihre Folgen sind in den Zielländern von einem Spannungsverhältnis geprägt - zwischen souveräner staatlicher Regulierung einerseits und der Beachtung von universalen Menschenrechten andererseits.

Eine Spannung, die Migrationspolitik in Zielländern zugrunde liegt, wird manchmal als liberales Paradox bezeichnet. Es geht um die Spannung zwischen nationalstaatlicher Souveränität einerseits und universellen Menschenrechten andererseits. Staaten entscheiden souverän, wer zugelassen wird – erst einmal zum Territorium, dann aber auch zur Mitgliedschaft. Aber zumindest liberale Demokratien sind auch an menschenrechtliche Normen gebunden, die etwa aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder der Genfer Flüchtlingskonvention hervorgehen.

In ihrem Beitrag aus rechtswissenschaftlicher Sicht geht Angelika Nußberger von der Beobachtung aus, dass es zwar kein generelles Menschenrecht auf die Gewährung von Asyl oder gar ein Menschenrecht auf Einwanderung gibt. Gleichwohl rahmt etwa die europäische Rechtsprechung das Feld menschenrechtlich. Eine grundlegende Überlegung lautet, dass Staatsangehörigkeit die volle Zugehörigkeit von Menschen zu einem Staat bedeutet, der über Grenzziehungen Territorium und Mitgliedschaft markiert. Aber liberale Rechtsstaaten haben auch über Staatsangehörige hinaus die Pflicht, das Leid jenseits ihrer Grenzen nicht völlig zu ignorieren. Aus rechtsstaatlicher Sicht können wir laut Nußberger von einem Minimalkonsens sprechen und zwar in Gestalt der Regel des Non-refoulement der Genfer Flüchtlingskonvention. Das bedeutet, dass Geflüchtete nicht zurückgewiesen werden dürfen, wenn bei einer Nicht-Zulassung, Abweisung oder Abschiebung Gefahr für Leib und Leben besteht. Es bleibt allerdings weiter die Frage, ob Grenzüberschreitung und Ankommen in einem fremden Staat nicht doch Menschenrechte sind. Falls ja, dann ergäben sich daraus weitreichende Folgen für die Öffnung von Grenzen.

Arnulf von Scheliha führt in seinem Beitrag aus der Theologie diese Diskussion am Beispiel des erst kürzlich erschienenen Gemeinsamen Wortes der christlichen Kirchen zu Migration weiter. Im Besonderen geht es ihm um die Folgen der darin geäußerten beiden Forderungen – einmal nach der „Freiheit zur Auswanderung“ und zum anderen dem „Recht auf Einwanderung“. Von Scheliha argumentiert, dass diesen Rechten auch Pflichten der Migranten selbst, etwa im Hinblick auf ihre Familien im Herkunftsland, gegenüberstehen. So kann er zeigen, dass nicht einfach nur eine Kluft zwischen Normen und Realität existiert – also bspw. im Hinblick auf Menschenrechte bei illegalen push-backs im Mittelmeer oder an der polnisch-belarussischen Grenze. Von Scheliha zeigt vielmehr, dass Spannungen schon den normativen Vorstellungen selbst inhärent sind. So würde etwa ein Recht auf Einwanderung in vielen Fällen Verpflichtungen der Migrantinnen zur finanziellen Unterstützung ihrer Familienmitglieder nach sich ziehen. Dadurch entstünde eine Spannung zwischen einem individuellen Recht auf Freizügigkeit einerseits und sozialen Verpflichtungen andererseits.

Über die Erkenntnis dieser Paradoxien hinaus stellt sich die Frage, ob und wie Einsichten aus der Migrationsforschung politikrelevant werden können. In ihrem Beitrag zu Migration aus ökonomischer Sicht konstatieren Walter Krämer und Christian Schmidt ganz trocken, dass Migration zwar unter bestimmten Umständen Lohn- und Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt erzeugen, aber die durch Migration angestoßene höhere gesamtwirtschaftliche Nachfrage diese Nachteile wieder ausgleicht. Eingang in politische Entscheidungen aber finden solche Einsichten eher selten. Derzeit scheint sich aber ein Gesinnungswandel anzubahnen. So berichtete etwa die Neue Zürcher Zeitung Anfang Oktober von Transportunternehmern in Großbritannien und der Schweiz, die angesichts des Fachkräftemangels vor Ort nun Fahrer in Nordafrika suchen und ausbilden lassen. Es bleibt abzuwarten, wie solche Initiativen dann durch Gesetze und Verordnungen gerahmt werden.

Schwierigkeiten sich Gehör zu verschaffen haben auch Vertreter von Ansichten, die darauf verweisen, dass eher die Gemeinsamkeiten und nicht die kulturellen Unterschiede zwischen Migrierten und Nicht-Migrierten überwiegen: So benötigen etwa viele Schüler jenseits von ethnischer Zugehörigkeit Fördermaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache. Dabei ist nicht unbedingt die ethnische Herkunft, sondern wohl eher die soziale Klasse mit entscheidend.

Insgesamt sollten wir mit dem Fokus auf das jeweilige Zielland von Migration als Ankerpunkt der Gesellschaft mit Migrationshintergrund allerdings vorsichtig umgehen. Die Transnationalisierungsforschung, die sich seit den 1990er Jahren etablierte und in der ich meine eigene Forschung verorte, stellt im Unterschied dazu die Migrierenden, ihre Gruppen und Organisationen selbst in den Mittelpunkt. Diese Perspektive betont die Handlungsoptionen von Migranten, wenn es etwa um die Entscheidung zur Mobilität geht; den Zielen, die mit Migration verfolgt werden; oder auch die Lernprozesse, die sich im Laufe von Migration ergeben. Beispielsweise geht es bei finanziellen Rücküberweisungen demnach nicht nur darum zu eruieren, wie Herkunftsstaaten ihre Zahlungsbilanzdefizite abmildern. Stattdessen ist auch zu fragen, welche Strategien Migrierende verfolgen, um etwaige Verpflichtungen ihren Familien gegenüber zu erfüllen, so etwa zur Finanzierung von Schulgebühren oder der medizinischen Versorgung und der Pflege von Angehörigen. Diese Aspekte spielen auch bei dem im Entstehen befindlichen Beitrag aus der Medizin von Wolfram Knoefel und Stoyan Popkirov eine Rolle. Kurz gesagt, Migrierende und ihre Organisationen sind nicht einfach nur in Staaten angesiedelt, sondern auch in dazu querliegenden sozialen Formationen – transnationalen sozialen Räumen bzw. transnationalen Feldern wie Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft oder Religion.  

These 5: Konzepte zu Migration in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften können einander über Vergleiche von Menschen mit anderen Spezies befruchten.

Es gibt keine einheitliche, übergreifende Theorie der Migration, aber etliche Teiltheorien und vor allem viele fruchtbare Querverbindungen über Disziplingrenzen hinweg, sogar zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.

Der Beitrag von Katharina Kohse-Höinghaus aus der Physikalischen Chemie behandelt Migrationsprozesse aus naturwissenschaftlicher Sicht. Migration wird in ihrem Beitrag vor allem im Hinblick auf unbelebte Materie gefasst. Dabei spielen Migrations- und Transportprozesse neutraler und geladener Teilchen in verschiedenen Kontexten eine Rolle, bspw. in Solarzellen, Batterien, Brennstoffzellen und Katalysatoren. Ein Verständnis der dabei wirksamen Mechanismen kann auch bei der Bearbeitung ganz praktischer Probleme helfen, wie etwa der Ausbreitung von Materialfehlern oder, wenn belebte Materie einbezogen wird, Mobilität in Ökosystemen.

Zu beachten ist, dass sich die Herausforderungen für Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden. In den Naturwissenschaften ist Migration kein Aschenputtel-Phänomen, das heißt, es gibt keine Diskussionen um „gute“ oder „schlechte“ Migration. Dies ist aber in den Geisteswissenschaften der Fall. Dort beschäftigen sich viele Fragen mit ethischen und normativen Aspekten. Zumindest schwingt diese Dimension, wenn auch im Hintergrund, immer mit. Ein Beispiel dafür ist der von der Gesellschaft für Analytische Philosophie nach dem „langen Sommer 2015“ ausgeschriebene Essaywettbewerb mit dem Titel: „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Ob diese Frage tief genug ansetzt, darüber werden wir sicherlich heute Abend im Leo-Brandt-Vortrag von Donatella Di Cesare mehr hören.

Eine vielversprechende Forschungsrichtung, die sowohl natur- als auch geisteswissenschaftlich gerahmt ist, könnte sich durch Vergleiche von Menschen mit anderen Spezies ergeben. Dazu ein Beispiel aus der Biologie: Es gibt Affengruppen, die nachweisbar immer wieder neue Mitglieder aufnehmen, die aus anderen Gruppen „übergelaufen“ sind. Diese Gruppen besitzen sehr viel mehr soziale und mechanische Fertigkeiten als Gruppen, die stärker isoliert leben.

Ausblick

Am Anfang meiner Ausführungen verwies ich auf sich überlagernde Herausforderungen in puncto Sicherheit, Klima und Flucht. Gerade Klimazerstörung und die damit verbundene Knappheit mancher Rohstoffe lässt erwarten, dass es zu vermehrten Konflikten und sogar Kriegen um knappe Güter wie etwa Wasser kommen könnte – und damit auch zu mehr Migration. Aber es wäre sicherlich völlig irreführend, Migration nur als eine Art Indikator oder Frühwarnsystem für das zu sehen, woran unser Planet krankt. Ich habe in meinen Ausführungen darauf Wert gelegt, ausgewählte Ergebnisse der AG Migration nicht einfach als Zeitdiagnose gegenwärtiger Krisen zu schildern, sondern als Beitrag zum besseren Verständnis von „Migrationshintergründen“. Denn wir wissen bspw. aus jahrzehntelanger Migrationsforschung, dass Korridore für legale Migration eine rege Mobilität in beide Richtungen anregen, von den Herkunfts- in die Zielregionen und umgekehrt. So kehrten, darauf weisen Krämer und Schmidt in ihrem Beitrag hin, etwa 90 Prozent der in den 1960er Jahren als „Gastarbeiter“ aus Italien bezeichneten Migrierten nach ihrem Aufenthalt in Deutschland wieder nach Italien zurück oder pendelten hin und her.

Aus der Beobachtung, dass regulierte Migration mehr Mobilität über Grenzen hinweg in beide Richtungen fördert, ergibt sich folgende Hypothese: Grenzen werden erst zu Grenzen, wenn sie nicht nur unterbinden, sondern auch ermöglichen – wie etwa die gerade erwähnten Korridore für Migration. Demgegenüber sind Mauern und Zäune keine Grenzen, sondern Hindernisse. Solche Konstruktionen sind Festungen. Um aber von Grenzen zu sprechen, muss nicht nur ein Austausch von Waren möglich sein, sondern auch Mobilität von Menschen.

Im Hinblick auf Grenzen sind nicht nur territoriale Grenzen, sondern auch rechtliche und soziale Grenzziehungen von Belang. Beispielsweise führt eine Legalisierung von Migranten ohne gültige Papiere in der Regel dazu, dass diese nun wesentlich einfacher ihre Familien in den Herkunftsregionen unterstützen können.

Was also eine Gesellschaft mit Migrationshintergrund auszeichnet, ist, dass sie Grenzen des Territoriums, aber auch der Mitgliedschaft, in ihrem Doppelcharakter von Trennen und Binden, von Beschränken und Ermöglichen ständig neu zu denken lernt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!