Neu in der Akademie: Prof. Dr. Michael Seewald (Klasse für Geisteswissenschaften)

Prof. Dr. Michael Seewald forscht an der Universität Münster zur Dogmenentwicklung. Der Theologe weiß, dass Reformen in der katholischen Kirche möglich sind und wie die Auseinandersetzung mit der kirchlichen Historie bei ihrer Umsetzung helfen kann.

Porträtfoto Prof. Dr. Michael Seewald
Porträtfoto Prof. Dr. Michael Seewald
Porträtfoto Prof. Dr. Michael Seewald

Das Interesse an seiner Forschung ist groß. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. Prof. Dr. Michael Seewald untersucht Kriterien des Dogmenwandels in der Katholischen Kirche. Fotos: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste / Barbara Frommann 2023

In der katholischen Kirche wird viel über Veränderung diskutiert. Prof. Dr. Michael Seewald begrüßt diese Entwicklung, allerdings ist ihm der Reformdiskurs zu gegenwartsfokussiert. „Der Blick auf Traditionen hat oft auch etwas Innovationsschöpfendes“, erklärt der Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte.

Sein Buch „Dogma im Wandel: Wie Glaubenslehren sich entwickeln“ wurde in fünf Sprachen übersetzt; zuletzt ist es 2023 bei Cambridge University Press auf Englisch erschienen. Der 36-Jährige hat drei Mechanismen aus-gemacht, mit denen die Kirche ihre Lehre verändert hat: absichtliches Vergessen, Innovationsverschleierung und öffentliche Korrektur.

Beim absichtlichen Vergessen wird ein Lehrinhalt nicht mehr erwähnt. Ein Beispiel ist die Vorstellung, dass alle Menschen biologische Nachkommen der historischen Persönlichkeiten Adam und Eva sind. Sie ist nach 1950 aus der katholischen Lehre verschwunden. Ein Ein-geständnis, dass sie naturwissenschaftlich widerlegt wurde, gab es vonseiten der Päpste nicht.

Die Innovationsverschleierung vergleicht Michael Seewald mit der umgekehrten Strategie eines Gebrauchtwagen-händlers. Während der Gebrauchtwagenhändler alte Autos neu aussehen lässt, gibt die Kirche neue Inhalte als alte aus. So habe sie auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erklärt, dass die Anerkennung von Religions- und Gewissensfreiheit ein unaufgebbarer Teil ihrer Lehre sei. Dass die offizielle Haltung der Kirche bis zum Vorabend des Konzils eine andere war, wird nicht thematisiert.

Michael Seewald hat auch einige wenige Fälle gefunden, in denen die Kirche eine Korrektur öffentlich zugegeben hat. Ein Beispiel betrifft die Todesstrafe. „Noch im Katechismus aus dem Jahr 1992 war die offizielle Haltung: Die Todesstrafe sei ein legitimes, wenn auch äußerst vorsichtig zu gebrauchendes Mittel der Strafjustiz. 2018 erklärte Papst Franziskus, dass diese Haltung falsch war und die Kirche die Todesstrafe von nun an ablehne“, erläutert der Theologe.

Laut Michael Seewald zeigen die drei Mechanismen und ihre Beispiele vor allem eins: Im Glauben steckt viel Politik. „Das aufzudecken, ist Aufgabe der Wissenschaft“, sagt der Lehrstuhlinhaber, der seit 2022 Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ ist. Auch wenn die Kirche ihre Reformen oft nicht publik gemacht hat, hat sie ihre Lehre immer wieder verändert.

Zur Person
Prof. Dr. Michael Seewald, geboren 1987, ist seit 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Mit 29 Jahren wurde er als Nachnachfolger von so bedeutenden Theologen, wie Joseph Ratzinger oder Karl Rahner, auf diesen Lehrstuhl berufen. 2017 wurde ihm als erstem Theologen der Heinz-Maier-Leibnitz-Preis verliehen. Der Preis gilt als wichtigste Auszeichnung für junge Forscherinnen und Forscher in Deutschland.